Buchvorstellung von Ein Planet wird geplündert

Anläßlich des Erscheinens meines Buches „Ein Planet wird
geplündert Die Schreckensbilanz unserer Politik
 
Von Herbert Gruhl
 
Bonn, 25. September 1975
 
Meine sehr verehrte Damen und Herren!
Liebe Kollegen!
 
Ich freue mich über Ihr Erscheinen und Ihr Interesse an meinem Buch. Seine
Grundlage ist nicht das Tagesgeschehen; dennoch oder gerade darum schneidet es wie
ein scharfes Messer den empfindlichsten Nerv der heutigen Zeit.
Ich habe mit meiner Rede nicht die Absicht, das Buch zu interpretieren, noch bin
ich im Stande, in zehn Minuten eine Zusammenfassung zu geben, die Ihnen das Lesen
erspart. Überdies muß ein Schreiber nicht ein guter Redner sein.
Ich kann nur versuchen, Ihnen einige Gedanken vorzutragen, wie ich das Buch
selbst einordne. Da ich mich darin mit dem Weltganzen beschäftige, hoffe ich auch
einen Überblick über die Einordnung der Arbeit innerhalb dieses Ganzen zu haben.
Der Club of Rome betrachtete nur die heutigen Fakten (ab 1900) und untersucht
die Möglichkeiten ihrer Steuerung, aber mit heutigen Mitteln so besonders der 2.
Bericht. Ich hinterfrage diese Fakten und beziehe einen Standpunkt außerhalb der
Gegenwart. Mein Blickwinkel erstreckt sich somit über die zeitliche Dimension, die
fast unendlich ist, und über den Raum dieses Planeten, der sehr enge Grenzen hat.
Innerhalb dieser beiden Dimensionen gelten die Naturgesetze, die auch auf
menschliches Tun und Lassen anzuwenden sind. Als notwendige Neuerung führe ich
die scharfe Trennung der zeitgebundenen Produktion der Natur (innerhalb ihrer
strengen Gesetze) und der kurzfristigen Produktion des Menschen (innerhalb seiner
Willkür) ein. Die Natur, die organische Welt, wird als die Voraussetzung des
menschlichen Lebens an den Anfang aller Betrachtungen gestellt. Ich sehe nicht, daß
jemand bisher eine so scharfe Trennung von Natur und Menschenwerk vorgenommen
hätte. Darum m ich mich auch gegen den Unsinn des Begriffs „wirtschaftliches
Wachstum“ stellen; denn im Bereich der menschlichen Produktion gelten die
Wachstumsgesetze der organischen Natur nicht.
Wenn der Mensch das höchst entwickelte Wesen ist, dann ist es auch das
anfälligste, dann braucht der Mensch auch all die Stufen vor ihm, die ihn bedingen. Er
kann nicht losgelöst von den Grundlagen leben, die seine Entwicklung erst ermöglicht
haben.
Das Zusammen- und Gegeneinanderwirken dieser beiden Produktionskreise bringe
ich in ein System, das soweit wie möglich mathematisch dargestellt wird. Eine weitere
grundsätzliche Frage ist die der quantitativ und qualitativ zunehmenden menschlichen
Arbeitskraft. Worauf beruht sie, was kann sie bewirken, und was ist eigentlich ihr Ziel
und ihr Verhängnis?
Nachdem die Grundlagen gelegt waren, entzogen sich die Folgerungen jedem
Einfluß. Wir müssen sie so hinnehmen, wie sie sind ob wir wollen oder nicht. Von
diesem neuen Ansatz her ergibt sich eine totale Umkehr der Beurteilung weltweiter
Vorgänge.
Die totale Bedrohung ergibt sich nicht aus den Mißerfolgen, sondern aus den
gigantischen Erfolgen der Menschheit. Was sich also in den nächsten Jahren vor uns
auftürmt, sind die furchtbaren Folgen unserer Erfolge.
Von jetzt ab ist meist das Gegenteil dessen richtig, was bisher richtig erschien und
getan wurde. Der Lehrsatz des Paracelsus, den dieser seinerzeit auf den Menschen
bezogen hatte: „Die Dosis macht es, ob etwas Gift oder Arznei ist“, gilt heute für den
ganzen Erdball.
Wenn nun ganze Blöcke unseres Weltbildes zusammenbrechen, dann tut das auch
mir leid; doch ich kann daran nichts ändern und kein Mensch kann das ändern. Es ist
aber viel besser, den Zusammenbruch gedanklich vorweg zu nehmen, als sich völlig
unvorbereitet von plötzlich eintretenden Katastrophen niederwalzen zu lassen. Darum
gibt es keine dringendere Aufgabe als diese: die eigentlichen Probleme dieses Planeten
deutlich zu machen. Eine Lösung ist schwer zu finden, und noch schwerer wird es
sein, daß die Menschen in ihrem heutigen Geisteszustand den schmalen Ausweg
annehmen. Bertrund Russel sagt: „Die Frage heute ist, wie man die Menschheit
überreden kann, in ihr eigenes Überleben einzuwilligen.“
Wir sind hier in Bonn wie in anderen Hauptstädten der westlichen Welt nicht etwa
dabei, die Probleme zu lösen sondern sie zu verschlimmern. Weil wir blind geworden
sind, weil wir immer noch glauben, daß die alten Rezepte auch weiterhin gültig sind.
Für das Verhalten der Industrieländer will ich Ihnen eine kleine Geschichte als eine
Art Gleichnis vortragen:
In einer Nervenheilanstalt finden Entlassungen statt. Zwei Männer wollen nach
dem gleichen Heimatort. An einer Kreuzung geraten sie auf die Eisenbahnschienen.
Sie laufen auf den Schwellen entlang, da auch die Bahnlinie in ihren Heimatort führt.
Plötzlich sehen sie hinter sich in der Ferne einen Zug näher kommen sie fragen an zu
laufen und immer schneller zu laufen, doch der Zug kommt immer näher, sie hören
schon laut die Lokomotive dampfen. Da ruft der eine zum anderen: Wenn jetzt nicht
bald eine Weiche kommt, dann sind wir verloren.
Genauso verhalten sich heute die Industrieländer. Sie sind blind und außerstande,
die Gleise zu verlassen. Sie wollen durch Beschleunigung nach vorn, das heißt
erneutes wirtschaftliches Anheizen, dem Verhängnis entgehen, das sie gerade damit
noch schneller und noch katastrophaler herbeiführen. Statt dessen müßten sie den
frühest möglichen Sprung zur Seite tun und ihre Lage überdenken.
Meine Damen und Herren!
Ich will Sie herausfordern, ich will Sie zum nachdenken provozieren. Ich werde
keine Gelegenheit mehr auslassen, gegen die Steigerung der Narretei, sprich der
wahllosen Produktion, zu protestieren.
Der größte Fehler der Menschen ist nämlich der, daß sie sich in ihrer Arroganz
einbilden, das ganze Universum sei eine Veranstaltung um des Menschen willen.
*
 
Aus dem Herbert-Gruhl-Archiv in Marktschellenberg. In: Naturkonservativ heute.
Jahrbuch der Herbert-Gruhl-Gesellschaft e.V. Hgg. von Andreas Gruhl und Volker
Kempf. 5. Jg./2005. Essen: Verlag Die Blaue Eule, 2005, S. 15-17.