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Ein Planet wird geplündert

Ein Planet wird geplündertEinführung

Politik kann heute nur noch als die Kunst verstanden werden,
die Existenz der Menschen in einer gefährdeten Welt zu sichern.
Georg Picht

Die Bewohner dieser unserer Erde werden in den nächsten Jahrzehnten gewaltige Veränderungen erleben – nur nicht die, welche in den letzten Jahrzehnten überall vorausgesagt werden.

Dussagen über die Zukunft sind zumeist beherrscht von den Wunschvorstellungen der Verfasser und denen ihrer Leser. So erscheinen täglich Tausende von Büchern, in denen steht, wie die Welt sein sollte. Ab und zu muß auch ein Buch erscheinen, das sagt, wie die Welt wirklich ist.

Dieses Buch ist die Antwort eines Politikers auf die Herausforderungen einer weltgeschichtlichen Situation, die es noch nie gab, solange Menschen auf diesem Planeten leben. Insofern lassen sich auch keine ähnlichen Krisen aus der Geschichte heranziehen, um daraus Lehren für die weitere Entwicklung zu ziehen. Man muß sich schon der Mühe unterziehen, die verschiedensten, miteinander verflochtenen Komponenten zu untersuchen, die zum heutigen Zustand geführt haben und daraus ableiten, was sie in absehbarer Zeit bewirken werden — und vielleicht auch, wie dem zu begegnen ist.

Zur Ermittlung künftiger Entwicklungen sind aber nicht nur die gegenwärtigen Tendenzen und Kräfte zu berücksichtigen, sondern auch die Gegenkräfte und die dem Menschen gezogenen Grenzen. Diese werden in genau demselben Maße schärfer und unerbittlicher, wie menschliches Tun neue Fortschritte und Siege erringt. In der Natur- wie in der Sozialgeschichte gibt es unzählige Beispiele dafür, wie erfolgreiche Arten sich bei ihrer Ausbreitung immer weiter von ihrer Lebensbasis entfernten, sich über immer weitere Räume verteilen mußten

Die Fußnoten befinden sich am Ende des Buches, S. 351.

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oder diesen Lebensraum so überlasteten, daß sie schließlich an ihren eigenen Erfolgen zugrunde gingen.

Auch für die heutige Menschheit ergeben sich die größten Gefahren nicht aus ihren Mißerfolgen, sondern aus ihren Erfolgen. Diese Bestandsaufnahme kommt zu dem Ergebnis, daß die Menschheit nur noch einige wenige »Erfolge« braucht, damit ihr der Untergang sicher ist. Daß ihr diese Erfolge gelingen, dafür sind alle Voraussetzungen gegeben. Nach Friedrich Nietzsches Wort hat die Menschheit an der Erkenntnis ein schönes Mittel zum Untergang.

Die Erkenntnis hat es dem Menschen ermöglicht, sich von den Naturgewalten in mancher Hinsicht frei zu machen und immer mehr Naturkräfte in seinen Dienst zu stellen. Eine Hybris hat die erfolgreichen Völker erfaßt: sie halten nun alles für möglich. Stark zurückgeblieben sind bis zum heutigen Tage die Kenntnisse der Menschen über die Folgen ihrer Erkenntnisse. Jeder Überblick ging verloren, und gerade dieser wird von Jahr zu Jahr dringlicher. Eine Zuständigkeit für »das Ganze« ist nirgendwo auszumachen. Die Erfolge auf unzähligen Einzelgebieten haben jede Besinnung verdrängt und das Gewissen zum Schweigen gebracht. Nun ist Gott tot, die totale Produktion ist an seine Stelle getreten. So wie im Mittelalter alle Gedanken und Werke sich auf das Jenseits richteten, so konzentrieren sie sich heute auf den materiellen Zuwachs. Verdoppelung und nochmals Verdopp­elung ist das Ziel: exponentielles Wachstum. Was das bedeutet, ist schwer zu erklären, es übersteigt das Begriffs­vermögen. Halten wir uns darum an die alte Fabel. Sie ist anschaulich:

Fern im Osten saß ein König mit seinem klugen Minister beisammen, und da er ein guter Schachspieler war, wünschte der König eine Partie zu spielen. Übermütig versprach er seinem Minister für den Fall, daß er ihn zu besiegen vermöchte, als Preis so viele Reiskörner, wie auf die 64 Felder des Schachbretts entfielen — wobei ein Korn auf das erste Feld kommen, jedes folgende Feld aber die jeweils doppelte Zahl von Körnern erhalten sollte wie das vorhergehende. Fangen wir schon zu spielen an, drängte der König, dieweil ich einen Sack voll Reis herbeischaffen lasse!

Der Minister aber war ein Spielverderber. Er versteifte sich darauf, erst einmal auszurechnen, wie viele Reiskörner im Falle seines Sieges denn überhaupt gebraucht würden. Sie rechneten daher, statt zu spielen und kamen ganz ohne Computer auf folgende Reihe: 1-2-4 – 8 – 16 – 32 – 64 – 128 – 256 – 512 – 1024 – 2048 – 4096 – 8192 -16 384 – 32 768 – 65 536 – 131 072. Damit waren sie jedoch erst

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beim 18. Feld. Sie brauchten längst nicht bis zum 64. Feld fortzufahren, dem König wurde schon bald klar, daß er nie und nimmer erfüllen könnte, was er da leichtfertig versprochen hatte.

Die heutige Welt hat Computer; doch sie rechnet nicht. Sie handelt ohne Umschweife, wie der König gehandelt hätte, wenn sein kluger Minister nicht gewesen wäre: Nachdem der erste Sack mit Reiskörnern nicht hinreichte, hätte er einen zweiten kommen lassen, dann einen dritten, vierten . . ., dann ganze Wagenladungen. Alle Keller, Gemächer, die Schloßhöfe wären bald mit Reissäcken angefüllt worden, während aus den entlegensten Gebieten des Reiches immer noch Wagen herangerollt wären. Seine Botschafter hätten schließlich mit den Nachbarstaaten um Reis auf Kredit verhandeln müssen. Denn als rechter König wäre er um alles in der Welt entschlossen gewesen, sein gegebenes Wort zu halten. Es wäre ja auch gelacht, wenn es nicht gelingen sollte, für lumpige 64 Felder genügend Reiskörner zu beschaffen.

Den letzten Teil der Geschichte kann man ruhig wörtlich nehmen. Mit fanatischer Verbissenheit ist die Menschheit dabei, die letzten Winkel des Planeten zu durchsuchen: die Tiefsee, die Regionen des ewigen Eises im Norden, die Antarktis im Süden. Nicht etwa, um mit den Funden weitere Jahrtausende menschlichen Lebens zu sichern, sondern, um den jetzigen Verbrauch weiterhin alle zehn bis 15 Jahre verdoppeln zu können. Wofür?

Die Begründung für dieses letzten Endes aussichtslose Unternehmen ist von entwaffnender Kindlichkeit: Warum sollte es nicht so weitergehen, wo es doch bisher so gut gegangen ist? Alle praktische Erfahrung scheint doch dafür zu sprechen, daß dieser Weg der richtige ist!

Und nun kommen diese Theoretiker, die zuerst das Ergebnis wissen wollen, bevor sie fröhlich drauflos verbrauchen! Welch ein Widersinn! Haben die Errungenschaften des weißen Mannes sich nicht inzwischen zur Weltzivilisation ausgeweitet? Hat nicht ein Volk nach dem anderen vor soviel durchschlagender und erschlagender Effizienz kapituliert? Beweisen nicht gerade die letzten traurigen Überreste von Naturvölkern, die von den Fotolinsen unserer Touristen bestaunt werden, wie überlegen unsere Zivilisation jeder anderen ist?

Wir wagen die Voraussage: wenn alles wie bisher weiterläuft, wird uns ihr Tun und Wissen bald bitter not tun, um zu überleben! In der Kriegsgefangenschaft erfuhren wir hochzivilisierten Weltbürger schon einmal, was die Grundbedürfnisse eines Menschen sind: ein Mantel oder eine Decke und ein Napf für das Essen. Was wir aber auch dort

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nicht lernen konnten, war, diese Bedürfnisse mit eigener Hand, ohne alle Hilfsmittel, zu befriedigen, das Lebensnotwendige selbst herzustellen. Dieses Erlebnis gab nur vermehrten Ansporn zum Wiederaufbau, zur schnellstmöglichen Sättigung des »Nachholbedarfs«, zum forcierten Einschwenken auf den seligen Pfad hektischen Wachstums.

Erst nachdem das abendländische Denken und Wirtschaften sich die ganze Welt unterworfen hat, mischen sich Zweifel in den globalen Sieg. Selbst die Fortschrittsgläubigsten bemerken jetzt Gefahren und sehen, daß »einiges sich ändern« müsse. Einige nüchterne Realisten sind bereits überzeugt, daß die Katastrophe unabwendbar sei. Unübersehbar ist, daß unsere Weltanschauung und unser Gesellschaftssystem schwere Fehler aufweisen. Worin bestehen sie? Und wie könnten sie beseitigt werden?

Sie stecken in mindestens einem Dutzend Grundirrtümern, die zu den Grundsteinen des Babylonischen Turmes gehören, der immer noch im Bau ist. Als da sind:

Der Irrtum, die Welt sei unendlich.

Der Irrtum, unsere Wirtschaft beruhe auf Arbeit und Kapital allein. Der Irrtum, über allem menschlichen Wirtschaften walte eine »unsichtbare Hand«. Der Irrtum, die größere Zahl und Menge sei stets besser als die kleinere.

Der Irrtum, materieller Wohlstand mache die Menschen glücklich. Der Irrtum, der Mensch verfüge über unbegrenzte Möglichkeiten. Der Irrtum, Wissenschaft und Technik dienten immer dem Fortschritt.

Der Irrtum, die Freiheit nehme unaufhörlich zu. Der Irrtum, die Beschaffung von Arbeit stelle kein Problem dar. Der Irrtum, die Nahrungsproduktion könne immer weiter gesteigert werden.

Der Irrtum, der Mensch habe das Eigentum erfunden. Der Irrtum, der Mensch habe den Krieg erfunden und könne ihn genauso beliebig wieder abstellen.

Vielleicht lassen sich alle diese Irrtümer auf den einen ersten Grundirrtum zurückführen, nämlich daß diese unsere Welt unendlich sei. Daraus erst ergab sich die bedenkenlose Ausbeutung dieses Planeten und die Mißachtung des Gesetzes von der Konstanz der Materie.

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Frühere religiösere Generationen hätten sich über die Fülle gewundert, die ein gnädiger Gott ihnen darbot. Auf Knien hätten sie ihm dafür gedankt. Die heutige Generation dankt niemandem — sie ist voller Arroganz auf ihre Errungenschaften. Sie verdächtigt alles, was nicht ihren »Errungenschaften« entspricht. Und sie ist absolut sicher — eben weil sie so vieles geschaffen hat, was es früher nicht gab —, daß sie noch viel mehr schaffen werde, Dinge, die es heute noch nicht gibt, die sich noch nicht einmal absehen lassen. Woher das alles kommen soll? Der menschliche Erfindergeist wird es erschaffen!

Zwar hat der Mensch noch nie aus dem Nichts etwas geschaffen, doch wurde bis heute nicht gründlich darüber nachgedacht, woher unser Reichtum eigentlich kommt. Woher stammt das, was wir heute unser eigen nennen? Wo wurde es weggenommen? Wem wurde entwendet, was wir uns angeeignet haben? Und das ist fürwahr nicht wenig.

Das Thema von Karl Marx war die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, eine keineswegs neue Erscheinung in der Menschheitsgeschichte. Schon vor Jahrtausenden haben die Mächtigeren die Schwächeren für sich arbeiten lassen. Ebenso gibt es viele Beispiele in der Geschichte, daß Schwache sich freiwillig dem Schutz der Starken unterstellten, um dadurch ihr physisches Leben zu sichern.

Während Karl Marx also die Ausbeutung der Menschen durch den Menschen aufgegriffen und angegriffen hat, greifen wir hier die Ausbeutung der Erde durch die Menschen an. Damit hört allerdings die Ähnlichkeit auch schon auf.

Das 19. Jahrhundert führte zur Verelendung bestimmter Bevölkerungsgruppen, das 20. Jahrhundert aber wird zur Verelendung des gesamten Erdballs im 21. Jahrhundert führen. Die arbeitenden Massen konnten im Osten durch den Kommunismus und im Westen durch die Gewerkschaften gegen die wirklichen oder vermeintlichen Ausbeuter mobilisiert werden. Ausbeuter wie Kommunisten fanden den gleichen, höchst einfachen Ausweg: die immer größere Ausbeutung der Erde. Einmal mobilisiert, konnten die Völker mit revolutionärer Gewalt oder mittels des Stimmzettels aus der bloßen Verteidigung zu einem beispiellosen Siegeszug übergehen: Die »totale Mobilisierung der unbelebten Natur« ist gelungen.‘ Jeder, der neue Methoden zur Ausbeutung der Erde erfindet, wird von den Kapitalisten belohnt, von den Kommunisten dekoriert und von beiden als Genie gefeiert.

Wie aber konnte unsere Erde die Mittel für diesen Sieg aufbringen? Läßt sich aus der Entwicklung schließen, daß auch künftig die Wünsche der Menschen in Erfüllung gehen? Ja, daß wir erst am Anfang

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eines Siegeszuges stehen, der uns zuguterletzt den Göttern – oder wem sonst – gleich mache? Von woher kommt diese Fülle? Gilt etwa das Gesetz, daß Materie zwar in einen anderen Zustand überführt, nie aber neu erschaffen werden kann, heute nicht mehr? Als der biblische Gott nach der Sintflut die Verheißung verkündete:

»Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht«2, da hatte er offensichtlich nur an die Versorgung der Menschen gedacht. Er rechnete wohl nicht damit, daß es diesen von ihm bevorzugten Menschenwesen gelingen könnte, Verfahren ausfindig zu machen, mit denen sie die ihm anvertraute Erde in ihrer Substanz vernichten würden. Heute »beruht unsere Wirtschaft auf der Annahme, daß die Quellen unserer Güter praktisch so unendlich sind, wie unser Bild von Gott«.3 Auf dieser falschen Annahme beruhen die letzten 200 Jahre Weltgeschichte.

Am Anfang dieses Zeitabschnittes steht ein ebenso grotesker wie bejubelter Irrtum der Ökonomen. Diese haben in ihre theoretischen Gebäude nur die Faktoren der Wirtschaft eingesetzt, die vom Menschen manipuliert werden, die sich steuern und organisieren lassen. Auf dieser Grundlage entstand eine Flut von Folgetheorien. Alle haben zum Inhalt, wie man am besten wirtschaftet, damit alle Welt in das Zeitalter der Herrlichkeit eintrete. Alle negativen Erscheinungen des Wirtschaftens werden dagegen kurzerhand einer »falschen Politik« in die Schuhe geschoben.

Im Osten wie im Westen herrscht ein »Fetischismus der Institutionen«,4 der alles für machbar hält und sogar davon überzeugt ist, daß auch Glück nur eine Frage der Organisation sei.5 Auch die Vorstellungen internationaler Gremien und die gesamte Entwicklungshilfe basieren auf diesem Glauben in die technische Machbarkeit der Weltordnung. Die wirtschaftlichen Methoden der Industrieländer werden mit Hilfe des Kapitals auf die Entwicklungsländer übertragen. Die Einführung westlicher Arbeits- und Verwaltungsmethoden sowie schnellster Verkehrsmittel soll dafür sorgen, daß diese Länder den gleichen hohen materiellen Standard erreichen. Man wundert sich dann sehr, wenn das nicht funktioniert.

All diesem Tun liegt der kapitale Irrtum zugrunde, die natürlichen Voraussetzungen des Wirtschaftens könnten unberücksichtigt bleiben. Man hat schlicht vergessen, daß die lebendige Natur und die Bodenschätze die Grundlage jeder Produktion, aller Kapital- und Arbeitseinsätze sind und bleiben werden. Dies ist das naturwissenschaftliche Grundgesetz, das heute ebenso gilt wie in alle Ewigkeit. Gerade auch

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für Christen. Denn: »Gott tut keine Wunder. Gott verletzt das Naturgesetz nicht«, heißt es bei Philip Wylie.6 Wären diese Elemente als Elementarfaktoren in die Rechnung einbezogen worden, dann wäre der Mensch bescheidener geblieben. Seine unbestreitbare Fähigkeit zur Veränderung wäre angemessen eingeschätzt worden. Viele Ideengebäude und Weltanschauungen, die heute die Gemüter erregen, wären von vornherein belächelt worden, statt daß sie Mord und Totschlag bewirkt, zu Terror und Verfolgung Andersgläubiger, zu fanatischen Bürgerkriegen, ja Weltkriegen geführt hätten.

Darum muß die neueste Menschheitsentwicklung zunächst im Lichte dieser unterschlagenen Naturgesetze betrachtet werden. Diese Fehlentwicklung ist zwar auch geistig bedingt – und bewirkt ihrerseits wieder geistige Veränderungen; aber diese Beziehungen sollen hier bewußt nur am Rande behandelt werden; auch die ideologischen Streitigkeiten der Welt sollen hier weitgehend ausgeklammert bleiben. Zwar ist die moderne Welt auch eine »philosophische Absurdität«;7 doch bleibt zu befürchten, daß weiteste Kreise dieser Welt eine philosophische Sprache nicht mehr verstehen, wie sie auch die Sprache der Kunst nicht mehr verstehen. Der hier untersuchte Zusammenhang erfordert auch nicht unbedingt die Analyse der geistigen Situation der Zeit. Die Auslegung der Naturgesetze allein genügt, die jetzige Zivilisation der Absurdität zu überführen. Im Mittelpunkt dieser Untersuchung stehen daher die Naturgesetze, denen wir Menschen ebenso unterliegen wie alle anderen Lebewesen auch. Doch haben wir von diesen Gesetzen viel mehr zu fürchten, weil wir sie (im Gegensatz zu allen anderen Lebewesen) über alle Maßen verletzen. Die Welt hat sich in den letzten 200 Jahren mit rasender Geschwindigkeit zu einer wirtschaftlichen Welt entwickelt. Die Wirtschaft beherrscht die meisten Lebensbereiche; die übrigen führen nur noch ein Schattendasein. Damit ist den Wirtschaftswissenschaften auch die Verantwortung für die gesamte Entwicklung zugefallen. Gerade sie haben jedoch eklatant versagt. Daraufhin hat der industrielle Mensch vergessen, daß er selbst ein Teil der Natur ist und daß die Natur allein ihm all die Stoffe liefert, mit denen er seine Produktionsmaschinerien füttert — auch wo es »Kunststoffe« sind. Unsere Beziehungen zur Natur sind aber gerade durch die Industrialisierung selbst quantitativ so stark angewachsen, »daß sie einen Geist der Verantwortung erforderlich machen, zu dem uns bis jetzt auch das modernste Denken noch nicht erziehen konnte«.“ Im Gegenteil: gera-

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de das moderne Denken hat die Kluft zur Natur immer stärker aufgerissen.“ Die Wirtschaftswissenschaften haben dabei Vorschub geleistet; die übrigen Disziplinen haben sich auf ihre vermeintlich abgegrenzten Fachgebiete zurückgezogen. Die tätigen Menschen aber haben sich ganz der Produktion verschrieben.

Rene Dubos stellt fest: »Viele Probleme, denen die Menschheit heute gegenübersteht, sind die Folgen einer Trennung zwischen der menschlichen Natur, der Umwelt und den Schöpfungen der wissenschaftlichen Technologie.«10 Die Geschicke der Welt werden überhaupt nur noch in Großstädten und von Gruppen entschieden, die von Naturerfahrung unberührt sind.

Je fortgeschrittener eine Zivilisation ist, desto mehr beutet sie die Natur aus. Die menschliche Arbeitskraft ist heute das einzige, womit man sparsam und sorgfältig umgeht!“ Ohnehin war dem Europäer die Natur in ihrem innersten Wesen stets fremd und unbegreiflich. »Der Mensch hat kein Organ für das Organische«, pflegte der Philosoph Hans Leisegang zu sagen.12

Die Wunder, welche die Natur vollbringt, sind um ein Vielfaches größer als die Spitzenleistungen der von Menschen ersonnenen Systeme. Doch welcher heutige Zivilisationsmensch betrachtet sie schon? Er wendet seine ganze Intensität seinen Maschinen zu und erörtert allen Ernstes die Frage, ob der von ihm ersonnene Computer nicht noch dahin zu bringen sei, selbständig zu denken und vielleicht sogar den Menschen an Intelligenz zu übertreffen. Dabei hat schon ein kleiner Vogel wie die Schwalbe in seinem winzigen Gehirn einen viel komplizierteren Computer eingebaut, der ihn sicher über Tausende von Kilometern leitet. Er zeigt ihm den richtigen Zeitpunkt für den Abflug an, bestimmt den Weg, berücksichtigt die Wetterverhältnisse unterwegs und wahrscheinlich sogar die am Zielort.“

Einer der wenigen, die tief in das Wesen der lebendigen Natur und des Menschen eingedrungen sind, ist Johann Wolfgang Goethe gewesen. Solche Tiefe ist seither nie wieder erreicht worden. Die geringe Beachtung Goethes heute spricht Bände über den Geist der Zeit. In den grandiosen Bildern seines Paust II hat Goethe auch unsere Epoche vorausgesehen: die Liquidation der beiden Alten, Philemon und Bau-cis, stellt die Ausmerzung der letzten Reste einfachen Lebens dar, die in die moderne Zeit hineinragen.’4 Und wie sinnträchtig, daß Faust erblindet, als er die technischen Projekte voranzutreiben wähnt, während in Wirklichkeit bereits sein Grab bereitet wird.

Auch Hegels Gedanke der dialektischen Entwicklung ist zweifellos

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eine großartige Erklärung der natürlichen Welt. Doch mußte er seiner Zeit ein Zugeständnis machen, das sich heute verheerend auswirkt: die Behauptung nämlich, die geschichtliche Entwicklung des Weltgeistes bewege sich ständig aufwärts. Den Naturgesetzen zufolge ist dies schlecht möglich. Jedem Vorstoß muß wieder ein Rückschlag folgen, jedem Aufstieg der Abstieg, auf den Sieg die Niederlage, auf Geburt der Tod.

Schlimmer noch als die Verständnislosigkeit für die Vorgänge im organischen Bereich ist die Verwischung zwischen dem Herrschaftsbereich der Natur und dem der menschlichen Willkür. Dies hat nicht nur zu einer Verwirrung der Geister geführt, sondern auch zum Durcheinander in der realen Welt: Man erklärt die Natur technisch und verwendet umgekehrt organische Kategorien auf künstliches Menschenwerk. Die Folge ist: Alle sind emsig tätig, doch in Wirklichkeit wissen sie nicht, was sie tun. Der Herr mag ihnen vielleicht vergeben, die Natur gewiß nicht. Sie führt ihre Konten über die Zeiten hinweg, ungerührt und unbestechlich nach einem System, das der Mensch nicht versteht. Er sieht nur die Folgen und forscht nachträglich nach den Ursachen der ermittelten Wirkungen.

Ein weiterer unverzeihlicher Fehler des modern wirtschaftenden Menschen besteht darin, daß sein Zeithorizont so beschränkt ist. Die weiteste Frist, in der er denkt, ist die Zeit, in der sich sein Kapital rentiert. Die Wirtschaft versteht unter kurzfristig ein bis zwei Jahre, unter mittelfristig bis zu zehn Jahren und als langfristig sieht sie schon Zeitspannen von zehn bis zwanzig Jahren an. Diese Dimensionen sind fahrlässig kurz angesichts der Tatsache, daß ein Mensch in den Wohlstandszonen der Erde heute damit rechnen kann, siebzig Jahre auf dieser Welt zu verbringen. Der begrenzte Zeithorizont der Wirtschaft ist identisch mit ihrer Gewissenlosigkeit. Diese Gewissenlosigkeit, die schon im Umgang mit der Natur sichtbar wurde, äußert sich auch den Menschen, ganz besonders den Nachkommen gegenüber, die zum Überleben auf die gleichen Naturgüter angewiesen sein werden wie wir selbst.

Darum steht der Wirtschaftsprozeß auch zeitlich zu den Prozessen der Natur in krassem Mißverhältnis. Bruno Fritsch stellt in Anlehnung an die Philosophin Jeanne Hersch eine Zeittafel verschiedener Prozesse zusammen, die wir etwas ergänzen und umstellen15:

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Systembereich Zeitspanne, in welcher sich systemrelevante Änderungen vollziehen (Jahre)

Geologische Ablaufe J, 000 000 000 bis 10 000 Biologische Entwicklungen ‚• knapp l 000 000 000 Hoher organisierte Lebensformen 550 x l 000 000 Entwicklung des Neo-Kortex 100 000 bis 3 X 10 000 Ökologische Regelkreise 10 000 bis 10 Menschlicher Organismus 70 bis 0 Ökonomische Prozesse Jahrzehnte Technische Prozesse 20 bis l Politische Prozesse z. B. Länge der Legislaturperiode (in den meisten Fällen 4 bis 5 Jahre);

Lebensdauer von Diktaturen (0 bis 40 Jahre) Rechnungslegungen (Bilanz) l Kalenderjahr

Es springt ins Auge, daß die »politische Weitsicht« die allerkürzeste ist und in Demokratien nur lumpige vier Jahre beträgt. (Sollte die immerhin etwas langfristige Politik des Kommunismus auch damit zusammenhängen, daß er wenigstens soweit planen muß, wie seine Staatsbetriebe es erfordern?)

Die politischen Parteien und Organisationen beziehen ihre Antriebe aus der unmittelbaren Vergangenheit, wodurch sie auch entsprechend emotionalisiert sind, und aus den sich kreuzenden Tagesinteressen. Geht es weiter wie bisher, dann ist vorauszusehen, daß sie sich weiterhin um Probleme streiten werden, die sich längst erledigt haben. Der Physiker Heinz Haber sagt: »Dieser Mangel an Verantwortung für die Zukunft bei unseren modernen Regierungsstrukturen ist sogar noch viel schlimmer als in der klassischen Familie. Einem Regierungschef, dem Vorsitzenden eines Zentralkomitees oder dem Präsidenten eines afrikanischen oder südamerikanischen Staates ist es ziemlich gleichgültig, wie die Welt zehn Jahre später aussehen wird. Die Wahrscheinlichkeit, daß er dann noch an der Regierung sein wird, ist ja viel zu klein.«“

Es genügt aber noch nicht einmal, die kalendarische Zeit für sich zu betrachten. Man muß sie in Beziehung zum Tempo der Veränderungen setzen. Und da stehen zehn Jahre heutiger Zeit einem Jahrhundert oder mehr in früheren Epochen gleich. Der Vorausblick müßte demgemäß nicht nur gleichweit reichen, sondern beträchtlich erweitert werden, weil auch das Tempo der Veränderungen sich vervielfacht hat. Diese Gesetzmäßigkeit kennt jeder Autofahrer: je höher die Ge-

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schwindigkeit, desto weiter muß die Sicht reichen. Denn: um so schneller kommt ein auftretendes Hindernis heran; und um so verheerender wäre ein Aufprall.

Die heutige Lage des »fortgeschrittenen« Teils der Menschheit gleicht der eines vollbesetzten Omnibusses, dessen Wagenführer von den Insassen ständig angehalten wird, Höchstgeschwindigkeit zu fahren, obwohl dichter Nebel die Sicht nimmt und kein Mensch die Strecke kennt. Aber die Passagiere beharren rechthaberisch darauf, daß man ja bereits 200 Kilometer mit ständig zunehmender Geschwindigkeit gefahren sei, ohne daß ein ernsthaftes Hindernis auftrat – folglich brauche man auch künftig nicht damit zu rechnen. Dem besorgt dreinschauenden Wagenführer wird bedeutet, man könne ihn ja ablösen, wenn er sich nicht zutraue, wozu jeder andere bereit sei. Wohlgemerkt, auch langsameres Fahren vermag nicht jeden Unfall auszuschließen, aber es mildert die Schwere des etwaigen Aufpralls – wie jeder Autofahrer weiß.

Darum ist der »Zeitdruck, unter dem wir stehen, heute schon ein beinahe verzweifelter . . . Kein einzelner, keine der heute installierten Führungseliten vermag diesen Zeitdruck noch rechtzeitig zu bewältigen . . .«“

Bei näherem Hinsehen ist die Situation eindeutig und absolut einmalig:

1. Noch nie zuvor gab es mehrere Milliarden Menschen auf dem Planeten wie seit diesem Jahrhundert.

2. Noch nie zuvor verlangte jeder einzelne soviel von dieser Erde wie in den letzten dreißig Jahren.

3. Noch nie zuvor gab es eine wirtschaftliche Totalausbeutung bis in die fernsten Winkel dieser Erde, wie sie zur Zeit im Gange ist.

4. Noch zu keiner Zeit der Weltgeschichte wußten die Regierungen

der Völker so wenig, wie es weitergehen soll, wie heute. Gewiß, angesichts des zunehmenden Tempos und der unendlich vielen Möglichkeiten der Entwicklung ist jede Voraussage, jede Prognose immer fragwürdiger geworden. Viele Voraussagen haben sich gerade in allerjüngster Zeit als lächerlich erwiesen. Doch das bleibt nicht so. Von nun an können Prognosen mit zunehmendem Grad an Treffsicherheit gemacht werden. Wieso? Weil die Grenzen des Planeten bereits sichtbar geworden sind! Die Voraussagen brauchen darum nicht mehr mühsam die bisherigen Entwicklungen fortzuschreiben und hochzurechnen, sie können von der Gegenposition, von der letzten Begrenzung her vorgenommen werden! Damit sind wieder Daten

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gegeben, die unumstößlich sind. Wenn schon keine Positivbestimmung getroffen werden kann, so läßt sich heute doch eine negative Bestimmung all dessen ausmachen, was alles nicht mehr geht. Diese Feststellungen bilden hinfort einen festen Rahmen, innerhalb dessen sich die Menschheitsgeschichte bewegen muß.

Dieser Rahmen gilt vor allem für die Wirtschaftspolitik. Ihre wirtschaftstheoretische Grundlage wird völlig neu zu legen sein. Bisher baut die ökonomische Theorie auf den oben genannten Irrtümern auf. »Um das Sozialprodukt für irgendeine spätere Generation – die in ihrer Anzahl neuerlich verdoppelt ist – auf einer Kurve wachsender Erwartungen und zunehmenden Wohlstandes zu planen, würde ein Wirtschaftswissenschaftler eine ganze Menge entscheidend wichtiger Informationen brauchen, die nicht einer unter ihnen für wichtig zu halten scheint«, schreibt Philip Wylie – und kommt zum Schluß: »Die Unterlagen der Ökologen müßten in eine solche Grafik eingehen. Unterlagen aus hundert weiteren biologischen Disziplinen, hundert chemischen Gebieten und aus ebenso vielen Spezialbereichen anderer physikalischer und Naturwissenschaften. Ich bin sicher, daß die Wirtschaftswissenschaftler diese Daten in ihren Projektionen nicht benützen, weil sie keine vernünftigen Fragen – oder überhaupt Fragen — auf diesen Gebieten stellen. Und doch verläßt sich unsere Nation auf sie und auf ihre ebenso unwissenschaftlichen Kollegen, die sozialen und politischen >Wissenschaftler<, wenn irgendeine bedeutende Vorausschau, auf die die industrielle Planung Amerikas gegründet wird, erstellt werden soll.«’8

Die kurzsichtigen Wirtschaftstheorien haben diesen Planeten in eine derart aussichtslose Lage gebracht, daß er ohne regionale Katastrophen aus ihr nicht mehr herauskommen wird. Nämlich: Hungerkatastrophen in den geburtenreichen Entwicklungsländern, Arbeitskatastrophen in den Industriestaaten.

Als sich in diesen Jahren die ersten Schwierigkeiten bei der Versorgung und Konjunktursteuerung herausstellten, wurde auch die völlige Hilflosigkeit der Wirtschaftstheoretiker deutlich. Sie kommen mit ihren alten Rezepten, die angesichts der neuen Lage geradezu lachhaft sind. Die Wirtschaftswissenschaft steht bereits vor dem Offenbarungsrichter, doch scheut sie sich noch immer, den Totalbankrott anzumelden. Und die Politiker scheuen das Eingeständnis, daß sie sich jahrelang von Wirtschaftswissenschaftlern täuschen ließen. Übrigens nicht nur, weil die Ökonomen ihre Fragmente mit einer unverfrorenen Selbstsicherheit als Weisheiten anpriesen, sondern weil alles auch so

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wunderbar lief . . . dreißig Jahre lang. Da wollte jeder gern dabeisein, wo es doch nur Verdienste in die Tasche zu stecken und Orden an die Brust zu heften gab.

Alles schien nur von der richtigen Organisation und Arbeitsteilung abzuhängen. So hatte Adam Smith es verkündet; und Karl Marx hatte geweissagt: Wenn man nur die Besitzverhältnisse ändere, dann würde das Paradies auf Erden bald bezogen werden können. Auf dieser Basis entwarfen in den demokratischen Staaten Parteien ihre Programme. Alles sollte erreicht werden, durch Kapitaleinsätze, Umschichtung der Steuereinnahmen und -ausgaben, durch Umorganisation der Verwaltungen und durch »Bildungsreformen«, von deren Inhalt ihre Verfechter selbst keine Vorstellung hatten, außer der, wie viele Milliarden sie etwa kosten würden. Über den mangelnden Umschlag großer Geldsummen braucht sich wohl niemand zu beklagen. Die Wirtschaftswissenschaft muß nun erst einmal Boden unter die Füße bekommen. Statt ihre intellektuellen Spielereien auszubauen, müssen zunächst die Fundamente gelegt werden, auf denen neue Theorien aufbauen können. Eine Inventur der Bestände dieses Planeten ist vordringlich. Dabei sind die unerschöpflichen und die erschöpf -lichen Quellen dieser Erde völlig getrennt zu behandeln. Daß die Grundlagen jeder industriellen Produktion aus begrenzten Lagerstätten stammen, erkannten bisher nur wenige. Besonders Schweizer Wirtschaftswissenschaftler haben hier neue Daten gesetzt: Adolf Jöhr, Hans Christoph Binswanger, Emil Küng, Bruno Fritsch, fast gleichzeitig mit einigen amerikanischen und englischen Bahnbrechern. Neuerdings nimmt die Zahl der Ökonomen, die diese Probleme sehen, zu. Die Wirtschaft ist weit davon entfernt, aber auch nur bescheidene Folgerungen zu ziehen – von der Politik gar nicht zu reden. In der Praxis gilt immer noch E. F. Schumachers Feststellung: »Die moderne Nationalökonomie hat sich nicht die Mühe gemacht, systematisch und bewußt zwischen reproduzierbaren und nicht-reproduzierbaren Grundstoffen zu unterscheiden, obwohl dieser Unterschied auf die Dauer ungleich wichtiger ist als der zwischen Einkommen und Kapital. Die Menschheit lebt unbekümmert vom Kapital der Erde und bejubelt jede Steigerung des Tempos der Ausbeutung unwiederbringlicher Lagerstätten.«“ Überall aber, wo etwas nur in begrenzter Menge vorhanden ist, wird der Faktor Zeit ausschlaggebend. Darum muß endlich die zeitliche Dimension in alle Überlegungen einbezogen werden. Dies ist keine theoretische Frage, sondern eine Entscheidung über Tod und Leben.

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Aber es geht nicht allein um die totale Ausplünderung der Erde, sondern auch um die ökologischen Schäden, die bei dieser Tätigkeit entstehen.

Zu verlangen ist, daß die Politik nicht die Anforderungen des Tages, sondern der Zukunft zur Grundlage ihrer Entscheidungen macht. Der französische Futurist Bertrand de Jouvenel kommt zu dem Ergebnis, daß alle für die Entscheidung Verantwortlichen die Mitarbeit der Vorausblickenden suchen müssen.2″ Die Politik braucht eine »Wissenschaft der Früherkennung«21, die mit Kontroll- und Entscheidungsbefugnissen ausgerüstet sein müßte. Damit könnte »die todbringende >Zukunftslücke< zwischen der Erkenntnis von Lebensgefahren und der in die Tat umgesetzten politischen Konzeption« geschlossen werden, wozu gegenwärtig keine der politischen Institutionen in der Lage ist. Klaus Müller sieht darüber hinaus das »Hauptproblem nicht einmal in der Lösung der krisenhaft sich abzeichnenden Überlebensfragen«, sondern in der Frage, »wie wir von den traditionellen, bis in die Gegenwart reichenden, in blinde >Zuständigkeiten< einer Froschperspektive atomisierten Politik überhaupt zu einer solchen global verstandenen Politik kommen können.«22 So wie die Politik heute organisiert ist, kann sie den Herausforderungen nicht begegnen; die Lücke ist zu groß, und die gegenseitige Sicht behindert. Zwar haben sich einige schon hinübergeschwungen; doch die Kommunikation mit der Masse der Zurückgebliebenen ist fast unmöglich. Denn alles, was vom Neuland der anderen Seite gemeldet wird, klingt so unwahrscheinlich und überraschend, daß es – wenn überhaupt — nur mit ungläubigem Staunen aufgenommen wird. Es klingt auch so bedrohlich und unangenehm, daß man besser nicht hinhört.

Um ganz konkret zu werden: Der größte Teil gerade unserer Politiker scheint die neuen Erkenntnisse über die Weltentwicklung zur schöngeistigen Literatur zu rechnen, mit deren Kenntnis man zwar Eindruck machen kann, die aber für politische Entscheidungen keineswegs benötigt werden. Gerade die Hirne derjenigen, die »Verantwortung tragen« und zu »Entscheidungen befugt« sind, scheinen vernebelt — anderenfalls müßte man sie für Betrüger halten. Die neuen wissenschaftlichen Prognosen wehren sie nämlich damit ab: So was könne man gar nicht wissen, es sei noch immer anders gekommen als vorausgesagt. Im gleichen Atemzug erklären dann aber dieselben Leute eben jene Zunahmeraten für unerläßlich, deren Durchrechnung zu den Katastrophenprognosen führte.

Wenn ausgerechnet die Gegner einer Aussage fieberhaft an deren

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Bewahrheitung arbeiten, fällt es schwer, nicht an betrügerische Absicht zu glauben. Es sei denn, die Verantwortlichen befolgen, wie Theo Löbsack annimmt, folgende Devise: »Male keine düsteren Bilder, male nicht den Teufel an die Wand, denn das kommt nicht an, das schadet dir, das wollen die Leute nicht hören.«23 Zwei Jahre nach Erscheinen der »Grenzen des Wachstums« mußte Dennis Meadows bitter feststellen: »Kein einziger Politiker, keine einzige politische Organisation, keine Partei, kein wichtiges Industrieunternehmen hat sich bisher anders als vor der Veröffentlichung des Alarmrufs von >Die Grenzen des Wachstums< verhalten. Es ist, als ob nichts geschehen wäre, als ob wir diese Studie in unseren Schreibtischen versteckt hätten, alles blieb beim alten.« 24 Der einzige international bekannte Politiker, der die Tragweite der Probleme erkannte, Sicco Mansholt, bestätigt diese Aussage.25

Vielleicht kann die Welt ohne den gigantischen Selbstbetrug gar nicht mehr leben. Vielleicht hat sich die Lüge schon so tief in alle Hirne eingefressen, daß sie nicht mehr frei sind. Vielleicht ist das menschliche Großhirn direkt schuld, wie Theo Löbsack in seinem Buch >Versuch und Irrtum – Der Mensch: Fehlschlag der Natur< behauptet. Dasselbe Großhirn, das uns aus allen übrigen Geschöpfen heraus und so weit über die Natur erhoben hat, daß jetzt alles von diesem Organ abhängt. Der einzige Ausweg, der nun bleibt: das Großhirn muß sich so weit ans andere Ufer schwingen, daß es nun – als letzten Schritt -des Menschen ungeheure Verantwortung für die Zukunft unseres Planeten begreift. Doch wieviel Großhirne sind groß genug, dies zu begreifen? Und wie viele sind bereit, der Erkenntnis die Tat folgen zu lassen?

Wird die Vernunft die Menschen abhalten können, ihre eigene Lebensgrundlage völlig zu zerstören? Da besteht wohl wenig Hoffnung! Denn was die Menschen heute vernichten, zum größten Teil ist das nicht ihre eigene Lebensgrundlage, sondern die ihrer Kinder und Enkel. Diese aber können »ihre Welt« noch nicht verteidigen. Was vermag ein Geisterheer von Ungeborenen schon in einer Welt, in der nicht mehr der Geist, sondern die Materie herrscht? Die höchst realen Interessen der heute bestimmenden Generation stehen im krassen Gegensatz zu den Bedürfnissen der Ungeborenen.2(‚

Doch zwei Gründe für Hoffnung gibt es. Erstens, nicht alle Menschen handeln nach dem Grundsatz: Nach uns die Sintflut! Zweitens, der Freitod der Menschheit erfolgt nicht von heute auf morgen, geboren und gestorben wird kontinuierlich. Es gibt keine Grenzen zwischen

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den Generationen, die Übergänge sind fließend. Viele von denen, die die schwerste Krise der Menschheit zu bestehen haben werden, befinden sich als Kinder und Jugendliche schon mitten unter uns. Ihnen und all denen, die heute geboren werden, wird nicht erspart bleiben, aus denselben Schüsseln zu löffeln, die wir heute leeren. Werden die Jungen, wenn sie erst zu begreifen anfangen, das noch dulden, was heute geschieht? Werden sie sich noch lange durch die jetzigen Parolen blenden oder beschwichtigen lassen, wo die Zeichen des Unheils bereits rundum sichtbar sind?

Sobald die ersten Zusammenbrüche gemeldet werden, wird uns nichts mehr möglich sein als pausenlose Katastropheneinsätze jahraus und jahrein. Wenn es auch höchst unwahrscheinlich scheint -vor allem für uns in Europa – die Katastrophen noch zu verhindern, so wollen wir doch wenigstens die Rettungsmaßnahmen vorbereiten.

Es gibt durchaus Ereignisse, die vorausberechenbar sind – auch Katastrophen. In Radevormwald in der Bundesrepublik Deutschland ereignete sich am 27. Mai 1971 folgendes: Ein vorwiegend mit Kindern besetzter Triebwagen und ein Güterzug fuhren aufgrund eines falschen Signals aufeinander zu. Die Sicht war für beide durch eine Kurve verdeckt. In der Zentrale wußte man bereits, daß die Züge aufeinander fuhren. Doch es gab kein Signal mehr, sie zu stoppen; keinen Ruf, der sie noch erreicht hätte. Aber eines konnte man tun und man tat es: Rettungsmannschaften und Feuerwehren wurden alarmiert und setzten sich zur Unglücksstelle in Bewegung, bevor das Unglück überhaupt geschehen war. Sie retteten einen Teil der Insassen – 46 Personen, davon 41 Schulkinder, waren tot.

Diese »letzte Hilfe« ist immer noch möglich, selbst wenn die Katastrophe sich als unausweichlich erweist. Der Alarm sollte ausgelöst werden, jetzt, sofort! Auch wenn Politiker protestieren, weil sie meinen, man dürfe die Bevölkerung auf keinen Fall »beunruhigen«. (Es könnte ja noch ein Wunder geschehen – und beiden aufeinander zurasenden Lokomotiven im richtigen Moment der Dampf ausgehen. Wahrscheinlich ist das nicht: Zu viele Heizer sind auf den »Zug der Zeit« aufgesprungen, um seine Geschwindigkeit noch zu steigern.)

Alles hängt demnach davon ab, ob die Politiker oder große Teile der Völker die Lage begreifen. Diese zu analysieren und Lösungen zu suchen, ist die Aufgabe, die sich dieses Buch stellt. Sollte die Antwort nicht gefunden werden, so hoffen wir wenigstens, die Rettungsmannschaften zu alarmieren. Vielleicht erreicht der Ruf auch die fahrenden Züge noch – obwohl unsere Einschätzung eher der des französischen

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Dichters Eugene lonesco nahekommt: »Ich bin ein Mensch unter drei Milliarden Menschen. Wie kann da meine Stimme gehört werden? Ich predige in einer übervölkerten Wüste. Weder ich noch andere können einen Ausweg finden. Ich glaube, es gibt keinen Ausweg.«27